Trichotillomanie: Haare ausreißen verstehen

Trichotillomanie: Haare ausreißen verstehen

07.08.2025

PD Dr. med. Witold Polanski

Die Trichotillomanie ist eine psychische Störung, bei der Betroffene immer wieder das unwiderstehliche Bedürfnis verspüren, sich selbst Haare auszureißen. Am häufigsten sind Kopfhaare betroffen, aber auch Augenbrauen, Wimpern oder andere Körperstellen können einbezogen sein. Die Störung gehört laut ICD-11 zu den Zwangs- und Impulskontrollstörungen. Schätzungen zufolge leiden etwa 1–3 % der Bevölkerung daran – viele davon unentdeckt, weil Scham und Verheimlichung groß sind.

Wenn das eigene Haar zur Belastung wird

Das Ausreißen der Haare passiert meist nicht aus Langeweile oder als gelegentliche Angewohnheit. Vielmehr entwickelt sich ein innerer Zwang, dem kaum widerstanden werden kann. Viele Betroffene berichten, dass sie vor dem Ausreißen eine starke innere Anspannung spüren, die sich erst nach dem Ziehen der Haare für einen Moment löst. Häufig folgt darauf jedoch Scham, Schuldgefühle oder Frust – weil kahle Stellen sichtbar werden oder das eigene Verhalten als belastend empfunden wird.

Trichotillomanie beginnt oft schon in der Kindheit oder Jugend, kann aber auch Erwachsene treffen. Typisch ist, dass die betroffenen Stellen mit der Zeit immer deutlicher sichtbar werden. Das kann dazu führen, dass das Thema Haare zu einem großen Problem im Alltag wird – etwa durch Fragen von Mitschülern, Kollegen oder in der Familie.

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Was steckt hinter der Diagnose?

Die genauen Ursachen der Trichotillomanie sind nicht vollständig geklärt. Wahrscheinlich wirken mehrere Faktoren zusammen:

  • Biologische Einflüsse: Veränderungen in der Regulation von Botenstoffen wie Serotonin, Dopamin oder Glutamat scheinen beteiligt.

  • Genetische Faktoren: Studien zeigen, dass familiäre Häufungen auftreten können.

  • Psychische Belastungen: Stress, Anspannung, aber auch Langeweile können Auslöser sein.

  • Vergesellschaftete Erkrankungen: Häufig tritt Trichotillomanie zusammen mit Angststörungen, Depressionen oder anderen Zwangsstörungen auf.

Medizinisch wird sie als Impulskontrollstörung eingeordnet: Ein starker Drang zwingt zur Handlung – trotz des Wissens um die negativen Folgen.

Diagnose und Abgrenzung

Die Diagnose wird in der Regel von Psychiater:innen oder Psychotherapeut:innen gestellt. Entscheidend ist das wiederholte Haareausreißen mit nachweisbarer Beeinträchtigung des Alltags.

Wichtig ist, Trichotillomanie von anderen Ursachen für Haarausfall (z. B. Alopezie, Hautkrankheiten, Hormonstörungen wie beispielsweise Schilddrüsenüberfunktion) zu unterscheiden. Hier kann eine dermatologische Untersuchung ergänzend sinnvoll sein.

Typische Ängste und Fragen

Die Diagnose Trichotillomanie kann verunsichern und viele Fragen aufwerfen. Ist das gefährlich? Werde ich jemals damit aufhören können? Was denken andere über mich? Gerade die Angst vor Stigmatisierung und Scham über das eigene Verhalten sind häufig. Viele versuchen, die kahlen Stellen zu verstecken oder reden lange mit niemandem über ihr Problem.

Oft besteht die Sorge, dass das Haar nicht mehr nachwächst oder dass bleibende Schäden entstehen. In den meisten Fällen regeneriert sich das Haar jedoch, sobald das Ausreißen gestoppt wird. Nur bei sehr langem oder intensivem Ziehen kann es vorkommen, dass einzelne Bereiche dauerhaft haarlos bleiben.

Wie wird Trichotillomanie behandelt?

Trichotillomanie ist behandelbar, auch wenn der Weg oft Geduld erfordert. Die wichtigsten Ansätze sind:

Verhaltenstherapie

  • Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Hilft, Auslöser und Muster zu erkennen.

  • Habit-Reversal-Training (HRT): Betroffene lernen, das Ausreißen durch alternative Handlungen zu ersetzen (z. B. Stressball drücken, bestimmte Bewegungen ausführen).

Medikamente

  • Es gibt kein spezifisch zugelassenes Medikament, aber Antidepressiva oder Medikamente, die den Glutamatstoffwechsel beeinflussen (z. B. N-Acetylcystein), werden teils erfolgreich eingesetzt – vor allem bei komorbiden Depressionen oder Zwängen.

Weitere Ansätze

  • Entspannungstechniken wie Achtsamkeit, Yoga oder progressive Muskelentspannung helfen, innere Anspannung zu reduzieren.

  • Selbsthilfegruppen und Online-Foren bieten Austausch und soziale Unterstützung.

Wie sind die Erfolgschancen einer Behandlung?

Auch wenn es oft viel Geduld erfordert, zeigt die Forschung, dass sich Trichotillomanie mit der richtigen Unterstützung deutlich bessern kann. Besonders die Verhaltenstherapie – und hier vor allem das Habit-Reversal-Training (HRT) – hat sich als wirksam erwiesen. Studien zeigen, dass sich die Symptome bei rund 60–70 % der Behandelten innerhalb weniger Monate spürbar reduzieren. Viele Betroffene berichten, dass sie durch das Training wieder deutlich mehr Kontrolle über ihr Verhalten gewinnen.

Medikamente können ergänzend helfen, vor allem wenn zusätzlich Depressionen oder andere Zwänge bestehen. Der Wirkstoff N-Acetylcystein hat in kleineren Studien bei etwa der Hälfte der Teilnehmenden zu einer deutlichen Besserung geführt. Wichtig ist jedoch, dass Medikamente allein selten ausreichen – sie wirken am besten in Kombination mit psychotherapeutischen Maßnahmen.

Langfristig profitieren viele Patient:innen von einer Kombination aus Therapie, Selbsthilfestrategien und sozialer Unterstützung. Auch wenn Rückfälle vorkommen können, lassen sie sich mit erneuter Behandlung meist gut auffangen. Entscheidend ist, dranzubleiben und kleine Fortschritte anzuerkennen – so steigen die Chancen, das Haareausreißen Schritt für Schritt zu überwinden.

Leben mit Trichotillomanie

Wer unter Trichotillomanie leidet, ist damit nicht allein. Auch wenn es schwerfällt, darüber zu sprechen, kann der Austausch mit anderen Betroffenen entlasten und Mut machen. Selbsthilfegruppen, Online-Foren oder Gespräche mit Fachleuten bieten Möglichkeiten, Erfahrungen zu teilen und Wege aus dem Kreislauf zu finden.

Ein offener Umgang mit dem eigenen Problem kann helfen, Scham abzubauen und wieder mehr Lebensqualität zu gewinnen. Es lohnt sich, Hilfe zu suchen – denn Trichotillomanie ist keine Charakterschwäche, sondern eine ernstzunehmende Störung, für die es wirksame Unterstützung gibt.

Was man selbst tun kann

Neben professioneller Therapie gibt es auch Strategien, die Betroffenen helfen können, im Alltag besser mit Trichotillomanie umzugehen. Vielen hilft es, Tagebuch zu führen, um Situationen, Gefühle und Auslöser des Haareausreißens zu erkennen. So werden wiederkehrende Muster sichtbar. Auch das Schaffen von Barrieren kann nützlich sein – etwa das Tragen von Mützen, Handschuhen oder Pflastern an den Fingern, um den direkten Griff ans Haar zu erschweren. Eine bewusste Beschäftigung der Hände durch Stricken, Knetmasse oder Stressbälle kann den Impuls ablenken. Zusätzlich kann es hilfreich sein, feste Routinen für Entspannung (z. B. Atemübungen vor dem Schlafengehen) in den Alltag einzubauen, um innere Anspannung frühzeitig abzufangen. Wichtig ist, kleine Fortschritte wertzuschätzen und nicht von Rückfällen entmutigt zu sein – denn Veränderung verläuft meist schrittweise.

Wissenschaftliche Quellen

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  • Bloch MH, Panza KE, Grant JE, Leckman JF. N-acetylcysteine in the treatment of trichotillomania: a randomized, double-blind, placebo-controlled add-on trial. Arch Gen Psychiatry. 2009;66(7):756–763. DOI: 10.1001/archgenpsychiatry.2009.60

  • Diefenbach GJ, Tolin DF, Hannan S, Maltby N, Crocetto J. Trichotillomania: Impact on psychosocial functioning and quality of life. Behav Res Ther. 2005;43(7):869–884. DOI: 10.1016/j.brat.2004.06.010

  • Azrin NH, Nunn RG. Habit-reversal: a method of eliminating nervous habits and tics. Behav Res Ther. 1973;11(4):619–628. DOI: 10.1016/0005-7967(73)90119-8

  • Woods DW, Flessner CA, Franklin ME, Keuthen NJ, Goodwin RD, Stein DJ, Walther MR. The Trichotillomania Impact Project (TIP): Exploring phenomenology, functional impairment, and treatment utilization. J Clin Psychiatry. 2006;67(12):1877–1888. DOI: 10.4088/JCP.v67n1207

BITTE BEACHTEN

Dieser Artikel dient ausschließlich der allgemeinen Information und kann nicht das persönliche Gespräch mit einer Ärztin oder einem Arzt ersetzen. Für eine individuelle Diagnose, Therapieempfehlung und Behandlung konsultieren Sie bitte immer medizinisches Fachpersonal.

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